Benedikt und die Schmetterlingsmenschen

 

Benedikt, der Kleinste

 

Diese Geschichte handelt von Benedikt, als er fast zehn Jahre alt war. So lange Benedikt zurückdenken konnte, war er immer der Kleinste und Dünnste. Schon im Kinder­garten. Die anderen Kinder waren größer und kräftiger. Wenn sie ein Spielzeug wollten, mit dem Benedikt gerade spielte, war es klar, wer es kriegte. Als er in die Schule kam, wuchs Benedikt ein ganzes Stück. Aber die anderen Kinder wuchsen noch mehr. So war Benedikt wieder der Kleinste und Dünnste in der Klasse. In der zweiten Klasse war es so, dass die meisten Erstklassler größer waren als Benedikt. Es kam schon vor, dass so ein Schul­an­fänger Benedikt auf dem Pausenhof auslachte und ihn „Zwerg“ oder „Winzling“ nannte. Das traf Benedikt dann beson­ders. Und er wurde immer trauriger. Denn Freunde hatte er keine. Mit einem, den schon die Erstklassler verspot­teten, wollte nie­mand befreundet sein.

            So nahm er sich eines Tages ein Herz und erzählte sei­nem Papa vom Spott der Kinder. Aber der war auch keine echte Hilfe.

            „Du bist nicht zu dünn“, sagte Papa. „Du bist grade rich­tig. Und wachsen wirst du schon noch. Pass auf: Eines Ta­ges machst du einen Schub, dass die anderen Kindern aus den So­cken kippen.“

Doch da war sich Benedikt nicht so sicher. Sein Papa war nämlich auch nicht gerade ein Riese. Aber zu dünn war er nicht. Er hatte eine Glatze, in der sich die Sonne spiegelte, und einen Krausebart, in dem sich beim Essen manchmal die Brot­krü­mel verfingen. Und er aß so gern, dass er ein kleines rundes Bäuch­lein vor sich her trug.

            Das hatte auch mit seinem Beruf zu tun. Benedikts Papa verfasste Kochbücher. Das waren ganz spezielle Koch­bü­cher. Sie waren für Leute, die gern abnehmen wollten. Be­nedikts Pa­pa züchtete im Garten hinterm Haus massen­haft Obst, Gemüse und feine Gewürze. Mit diesen Zutaten dach­te er sich dann neue Rezepte aus. Diese Rezepte pro­bier­te er aus und kostete ständig beim Kochen. Deshalb nahm er selbst nicht ab sondern zu. Ob­wohl er doch nur Diät­ge­richte aß.

            Jeden Tag fragte Papa Benedikt, was er sich denn zum Mit­tagessen wünschte. Und das kochte er dann für ihn. Er kochte ziemlich lecker und Benedikt fand auch, dass er gar nicht so we­nig aß. Deshalb keimte in ihm immer wieder doch die Hoff­nung auf, bald nicht mehr der Kleinste und Dünnste in der Klas­se zu sein. Das war wieder einmal der Fall, als Benedikt in die dritte Klasse ging und die Schuluntersuchung vor der Tür stand.

 

Die Schuluntersuchung

 

Das war an einem brütend heißen Junitag und eigentlich nahm die Geschichte damals ihren Anfang. Den ganzen Monat schon herrschten Temperaturen wie üblicherweise nur im Hochsom­mer. Du hast dieses Wetter sicher schon einmal erlebt: Nicht das mickrigste Wölkchen war zu sehen. Von früh bis spät brannte die Sonne vom strahlend blau­en Himmel. Der Asphalt war so heiß, daß man auf den Gehsteigen nicht barfuß gehen konnte. Die Luft flimmerte wie über den Sanddünen der Wüste.

            An diesem Tag kam der Arzt in die Schule. Er wollte die Schüler der dritten und vierten Klassen untersuchen. Der Doktor sah aus, als würde ihn gleich der Hitzeschlag tref­fen. Über sein dreifaches Kinn und die dicken Wangen lief ihm der Schweiß hinunter. Sein Gesicht war rot wie Ket­chup. Er saß in seinem Drehsessel wie eine riesige Tomate, die jeden Moment zu zerplatzen drohte.

            „Macht schon, macht schon, Buben!“ Der Schularzt brach­­te nicht mehr als ein schlaffes Winken zustande. „Das Wie­gen und das Abmessen. Ihr wisst doch, wie das geht.“

            Es gab ein großes Gejohle. Einige Jungen zogen den Mit­schülern die Shirts über den Kopf. Andere kniffen sich gegen­seitig. Sie hatten eine Menge Spaß.

            Nur Benedikt stand ein Stück abseits und sah den an­deren zu. Für ihn als Kleinsten und Dünnsten waren die Schulunter­suchungen immer ein ziemlicher Alptraum. Wenn er wieder ein­mal kaum gewachsen war und nichts zugenommen hatte, lachten die anderen Jungen noch mehr über ihn als sonst. Vor einiger Zeit hatten sie sich so­gar neue Spitznamen für ihn aus­gedacht. „Knochenge­rippe“ nannten sie ihn jetzt mit Vorliebe. Oder „Rippe“. Oder „Knochi“. Du kannst dir vorstellen, dass es für Bene­dikt nicht sonderlich angenehm war, so gerufen zu wer­den.

            Aber diesmal war es anders gewesen. Benedikt hatte dieser Untersuchung geradezu entgegengefiebert. Denn er hatte in den letzten Wochen so viel gegessen, wie er nur konnte. Außerdem bildete er sich ein, daß ihm die Beine seiner Hosen schon fast zu kurz waren. Er hätte schwören können, daß er ein ganzes Stück gewachsen war. Er war sich ganz sicher, daß er diesmal nicht mehr der Kleinste und der Dünnste sein würde.

            So konnte er es kaum mehr erwarten, bis er an der Rei­he war. Ungeduldig stieg er von einem Fuß auf den ande­ren.

            „Was ist denn?“, rief einer der Mitschüler. „Musst du aufs Klo?“

            Doch Benedikt beachtete ihn nicht. Endlich stand er auf der Waage. Und schlagartig wurde ihm übel, als hätte er etwas Ver­dorbenes gegessen. Weil Benedikt nichts sagte, kriegten die an­deren Jungen natürlich mit, dass da etwas nicht stimmte. Es wurde to­ten­still im Ärztezimmer. Alle Blicke waren auf Bene­dikt ge­richtet.

            Wie er mit seiner Hühnerbrust auf der Waage stand und ihm die Boxer-Shorts um die Storchenbeine flatterten. Wie er he­rum­tänzelte, als müsste er jetzt wirklich drin­gend aufs Klo.

Wie er mit seinen  knochigen Armen  wild in der Luft um­herwedelte, als wollte er einen unsichtbaren Bienenschwarm vertreiben.

 
   

            Wie er sich die kurzen blonden Haare raufte, wie ihm die Ver­zweiflung ins sommersprossige Gesicht geschrie­ben stand.

            Benedikt starrte die Anzeige der Waage an. Das konnte doch nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein! Er hatte nicht zu­genommen. Ganz im Gegenteil: Seit der letzten Schulunter­su­chung hat­te er ein Kilo abgenom­men!

            „Also?“ fragte der Arzt müde. „Du musst ganz ruhig stehen! Sonst geht das nicht!“

            Benedikt versuchte, etwas zu sagen. Aber im ersten Mo­ment brachte er nur ein klägliches Krächzen heraus.

            „Na, Knochi? Was ist los? Hat’s dir die Sprache ver­schla­gen?“

            Benedikt hatte den Kopf gesenkt. Diese höhnische Stim­me: Das konnte nur der Sascha sein. Ich bin sicher, du kennst die­sen Typ. Sascha war ein Junge, so groß wie ein Vierzehn­jäh­ri­ger. Dazu war er echt dick. Doch niemand traute sich, ihn des­wegen auszuspotten.

Der Sascha war stark wie sonst keiner in der Klasse. Er war keiner, der aus­ge­spottet wurde.

Er war einer, der andere aus­spot­tete. Und eines seiner liebs­ten Opfer war Benedikt.

            Auch jetzt stand Sascha breitbeinig da und musterte Be­ne­dikt mit herablassendem Blick. Er überragte die ande­ren Jun­gen um mindestens einen Kopf. Er hatte die dicken Arme vor der Brust verschränkt.

            Sascha gab ein wieherndes Lachen von sich. „Glaubst du, dass dir über Nacht tolle Muckis gewachsen sind?“

            Statt Sascha zu antworten, wandte sich Benedikt an den Schularzt. „Könnte ...“

            Benedikt räusperte sich mehrmals. Sein Herz klopfte so schnell, dass er gar nicht ordentlich sprechen konnte. Aber er ver­suchte es erneut.

            „Könnte es sein“, sagte er, „dass mit der Waage etwas nicht stimmt?“

             An Stelle einer Antwort zog der Arzt eine Augenbraue in die Höhe.

            Benedikt probierte es nochmals. „Dass sie ... nicht richtig eingestellt ist?“

            „Junger Mann ...“

            Benedikt merkte, dass der Arzt allmählich die Geduld zu verlieren begann.

            „Junger Mann“, wiederholte der Arzt. „Es hat eine Af­fen­hit­ze, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Ich hab keine Nerven, jetzt mit dir über diese Waage zu dis­ku­tieren. Würdest du also die Güte haben und mir jetzt sa­gen, wie schwer du bist!“

            Benedikts Ohren glühten, als hätten sie Feuer gefangen. Er war so enttäuscht, so wütend! Du wirst wohl verstehen, dass er in diesem Moment am liebsten im Erdboden ver­sun­ken wäre.

            Benedikt spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er wuss­te, dass er die Tränen jetzt gleich nicht mehr zurück­halten konnte. Aber um nichts in der Welt wollte er vor den anderen als Heul­suse dastehen.

            So sagte er nichts mehr. Er sprang von der Waage. Raff­te sei­ne Hose, das Shirt und die Schuhe zusammen.

Dräng­te sich durch die Mauer der anderen Jungen.

Und rannte aus dem Zimmer.