Mama singt
Ich bin der Benni. Ich bin zehn Jahre alt und habe vor einiger Zeit einen echten Außerirdischen getroffen. Das klingt zwar unglaublich, aber du kannst es mir ruhig glauben. |
Es kam so. Wir waren auf dem Weg zum Kindergarten und zur Schule. Wir, das sind die Mama, die Lisa und ich. Die Lisa ist meine kleine Schwester. Sie ist erst fünf. Sie nervt, weil sie mir ständig mit ihren Puppen vor dem Gesicht herum fuchtelt. Ohne ihre drei Lieblingspuppen macht sie keinen Schritt. Ständig quasselt sie davon, wie wunderschön ihre Puppen sind und dass sie selbst auch einmal so schön wird. Weil sie auch so lange glänzende Haare hat wie ihre Puppen. Als ob mich das interessieren würde.
Die Mama nervt mich auch oft. Immer dann, wenn sie singt. Sie ist schon ziemlich alt. Ganz genau weiß ich´s nicht, aber mindestens über dreißig. Und sie ist der Meinung, dass an ihr eine ganz tolle Sängerin verloren gegangen ist. Deshalb singt sie den ganzen lieben Tag lang. Beim Kochen singt sie und unter der Dusche. Und sogar beim Einkaufsbummel mit der Tante Erika stimmt sie hin und wieder ein flottes Liedchen an. Da bin ich ja nicht dabei, aber die Tante Erika hat das mal erzählt. Sie hält Mamas Singerei auf die Dauer auch nicht aus. Das hat sie ihr einmal gesagt, als die beiden bei uns zuhause im Wohnzimmer gestritten haben. Aber mittlerweile haben sie sich wieder versöhnt und die Mama ist wieder fleißig am Singen.
Auch beim Autofahren hat sie meist ein Liedchen auf ihren roten Lippenstiftlippen. Sie singt zur Musik aus dem Autoradio. So laut sie kann und voller Leidenschaft und Begeisterung. Und leider schrecklich falsch. Das hat sogar einmal der Papa gesagt und der sagt normalerweise nur Gutes über die Mama.
Deshalb gab es heute früh im Auto das übliche Bild: Ich inmitten der puppenfuchtelnden Lisa und der falschsingenden Mama. Ich spiele mit meinem Gameboy und versuche, die verrückte Welt um mich herum zu vergessen. Und da ist es passiert.
Lisas Puppen starteten einen Angriff auf meinen Gameboy. Eine von ihnen, die Lisa immer Ella nennt, versetzte ihm einen Fußkick. So schräg von unten. Der Gameboy rutschte mir aus den Händen. Er segelte quer durchs Auto und in Richtung von Mamas Schoß. Die Mama hatte sich gerade total in ein Lied hinein gesteigert. Voll unerfüllte Liebe und Herzschmerz und so. Darin wurde sie abrupt unterbrochen, als der Gameboy auf ihrem Schoß landete. Sie erschrak sosehr, dass sie voll auf die Bremse trat.
Gott sei Dank waren wir alle angeschnallt. Sonst wären wir wohl durch die Windschutzscheibe geknallt. So aber schrien wir nur auf. Die Mama schrie wie eine Opernsängerin, die ihren Liebsten nicht kriegen kann. Die Lisa schrie wie eine Barbiepuppe, der Ken den Haarspray versteckt hat. Und ich schrie wie einer, der fürchten muss, dass sein Gameboy kaputt gegangen ist.
Und dann schrie noch jemand. Jemand, der sich unter meiner Baseballkappe befand.
Dazu musst du wissen, dass ich meine Baseballkappe liebe. Sie ist dunkelblau und hat das Zeichen der New York Yankees vorn drauf. Mein Papa reist ziemlich viel in der Welt herum. Von einer seiner Reisen nach Amerika hat er mir diese Kappe mitgebracht. Seitdem habe ich sie fast ständig auf, manchmal sogar beim Schlafen. Meine Lehrerin wollte, dass ich sie während der Schulstunden abnehme. Das war am ersten Schultag in der ersten Klasse. Da habe ich zu weinen begonnen, ich war damals ja noch ein kleines Kind. Die Lehrerin hat deshalb meine Mama in die Schule bestellt und die beiden haben sich lang unterhalten. Die Mama hat ihr gesagt, dass mein Papa oft wochenlang nicht zuhause ist. Und ich zwar einen Vater habe, aber trotzdem zuweilen ein vaterloses Kind bin und mich die Kappe an ihn erinnert. Das hat sie toll hingekriegt, die Mama, denn jetzt darf ich die Kappe auch in der Klasse aufbehalten. Die Lehrerin hat sich schon längst dran gewöhnt und meine Freunde sagen manchmal, dass sie sich mich ohne meine Baseballkappe gar nicht mehr vorstellen können.
Und unter dieser Kappe kam jetzt im Auto eine Stimme hervor.
„Verflixt und zugenäht!“, rief diese Stimme. „Wo bin ich hier denn nur gelandet? Auf einem Irrenhausplaneten?“